Agenten für den Doppeladler
Ein Buch von Albert Pethoe
Rezension von Martin Möller
Für die Kriegs- und Militärgeschichtsschreibung war der Erste Weltkrieg insofern ein Glück, als eine ungeheure Fülle neuer und zuvor ungeahnter Komplexe das Kriegsgeschehen bereicherte. Neben der Luftwaffe, dem Stellungs- und Vernichtungskrieg, der Panzerwaffe waren das auch die Propaganda und Geheimdiensttechniken, die gegenüber früheren Kriegen in raffinierter Weise perfektioniert wurden. Namentlich die Bedeutung von Propaganda und Geheimdienst hat in der herkömmlichen Geschichtsschreibung bisher nicht den Niederschlag gefunden, der nötig ist, um das Geschehen überhaupt verstehen und werten zu können. Grund dafür ist die wenig sachgerechte Staatsfixierung der Historiker, die dazu führt, daß die Niederungen staatlicher Tätigkeit wie Lüge, Heuchelei, Terror und Massenmord mit Samthandschuhen angefaßt und übersehen werden (Zumindest wenn es sich um Siegerstaaten handelt).
Für eine sachgerechte Beurteilung des politischen und kriegerischen Geschehens in diesem "Völkerringen“ ist die profunde Kenntnis dieser Komplexe jedoch unabdingbar. Namentlich das Geschehen des Ersten Weltkriegs liefert die Schlüssel zu einem Blick auf die moderne Geschichte, der erst das Verständnis unserer Gegenwart ermöglicht. Es muß in größter Deutlichkeit betobt werden, daß ohne profunde Kenntnis des Ersten Weltkrieges und seines unmittelbaren Nachwirkens unsere Gegenwart ein unentwirrbares Rätsel bleiben muß.
Bereits die den Ersten Weltkrieg auslösenden Schüsse von Sarajevo 28. Juni 1914 waren in vielschichtige geheimdienstliche Hintergründe verwoben, deren Spuren das Werk Albert Pethös verfolgt. Als 1914 Österreich-Ungarn in den Kampf ging, war es seinen zahlreichen weltweiten Gegnern an Truppenstärke hoffnungslos unterlegen. Einen Ausgleich bildete sein exzellenter militärischer Geheimdienst. Dieser steht in der Geschichtsschreibung völlig zu Unrecht in schlechtem Ruf. Dafür wiederum gibt es zwei Gründe: Erstens die Tendenz, alles schlecht zu machen, was die Mittelmächte betrifft, zweitens die völlig abwegige Darstellung, die der Fall Redl in der Öffentlichkeit erfahren hat.
Der Geheimdienstler Oberst Redl, Hochverräter in Spitzenposition, der Spionage für das zaristische Rußland betrieb, ist durch zahlreiche Bücher und Filme nach wie vor ein Begriff. Die Affäre um seinen Verrat wird von Pethö anhand erstmals zugänglicher Dokumente neu und authentisch interpretiert. Dabei kann Albert Pethö zweifelsfrei nachweisen, daß Kisch und Zweig, die diese Affäre weltweit popularisiert haben, im Trüben gefischt und wenige, meist allgemein zugängliche Infos mit Erfindungen und Lügen aufgepeppt haben. Gerade der jüdische Journalist Kisch, der stets seine Wahrheitsliebe wortgewaltig beschworen hat, steht nun als Kolporteur und Verräter da. Die außerordentliche Institution, der Redl angehörte und durch die er schließlich auch überführt wurde, ist der Vergessenheit anheimgefallen. Zu Unrecht: Der österreichische Nachrichtendienst zählte, trotz größter Knappheit an Geldmitteln, zu einem der effizientesten seiner Zeit. Das von k. u. k. Offizieren und genialen Code-Brechern entwickelte raffinierte System der Funkspionage, damals "Radiohorchdienst“ genannt, wurde zu einer der Hauptursachen der erstaunlichen Erfolge der Mittelmächte im Kampf gegen die gewaltige russische Übermacht. Die Marineure des Österreichischen Lloyd im Kundschaftsdienst in der Levante; exotische Einsätze im Wüstensand, durchgeführt vom Priester und Orientalisten Alois Musil; verheerende Sabotageuntemehmen in Italien und der hochrangige Kleriker im Vatikan, der sich in den Dienst der Österreicher stellte; das staatsfeindliche tschechische Exil und die Tätigkeit der k. u. k. Kundschaftsoffiziere in der Spionagedrehscheibe Schweiz sind nur einige Facetten eines schillernden Mosaiks, das durch die Recherchen eines Jahrzehntes zusammengefügt werden konnte. Der Geschichte dieses im "Evidenzbureau“ in Wien wirkenden k. u. k. Nachrichtendienstes, seinen Erfolgen und Mißerfolgen im Weltkrieg von 1914-1918, den Talenten und Fähigkeiten seiner Offiziere und Agenten sowie ihrem Schicksalen widmet sich das Buch Pethös.
Die "Schuld“ am Ausbruch des 1. Weltkriegs wird oft Österreich angelastet. Selbst diejenigen deutschen Historiker, die den antiimperialistischen Ideologen bezüglich des Hohenzollernstaates nicht folgen wollen, zeigen nur wenig Scheu, wenn es gilt, der Habsburger Monarchie eine hohe Verantwortung, ja die Schuld am Ausbruch des Krieges zuzuweisen. Leider ist dieses Urteil meist von wenig Sachkenntnis beeinträchtigt, denn die zugegebenermaßen komplizierte und faktenreiche Geschichte dieses heterogenen Staatswesens ist auch den Fachgelehrten nicht bekannt.
Es reicht zweifellos nicht aus, stets lediglich auf die Julikrise 1914 zu fokussieren und die tatsächlich schwerwiegenden Fehler, die damals gemacht worden sind, herauszustellen. Ein tragfähiges Urteil ist nur dann zu erreichen, wenn man sowohl die welthistorische Rolle Habsburgs als auch seinen Rang in der europäischen Geschichte profund und abgewogen darzustellen in der Lage ist. An dieser Aufgabe sind die meisten deutschen Historiker gescheitert, weil das in die Katastrophe führende Verbrechen von 1866 eine Paralyse der Geister gezeitigt hat, die ihresgleichen sucht. Diese schwere geistige Deformation ist noch nicht ausgestanden, denn auch die BRD ist wie das Dritte Reich eine Nachfolgestaat des Borussenimperiums und somit vielen seiner düsteren Traditionen verpflichtet. Auf ein gerechtes Urteil wird Österreich wohl noch lange warten müssen, haben doch gerade die jüngsten Ereignisse gezeigt, daß die BRD genauso borniert wie ihre politischen und geistigen Vorgängerstaaten auf den südöstlichen Nachbarn schielt.
Auch die Weltkriegsgeschichtsschreibung der germanozentrischen Schriftsteller weist dem "Kamerad Schnürschuh“ einen schlampig-verweichlichten Charakter zu, der zu Defaitismus neigt. Dabei war nicht zuletzt die Großmannsucht Germano-Preußens für die fatale Ausgangslage des Weltkrieges verantwortlich, als Mitteleuropa von den Mächten der Welt in die Vernichtungszange genommen wurde. Der Doppelverrat von 1866, als Preußen nicht nur Österreich als Führungsmacht des Deutschen Bundes in den Rücken fiel, sondern auch noch Italien gegen Deutschland aufhetzte, was zum Verlust herrlichster, urältester Reichslande führte, mußte sich langfristig grausam rächen. Genau dieses geschah im 1. Weltkrieg, dessen fatales Ergebnis sich die Hohenzollern trotz des gutwilligen Wilhelm II. zurechnen lassen müssen. Wilhelm II. war daran am wenigsten schuld, denn er versuchte immerhin Österreich gegenüber Bundestreue zu üben. Am Schluß mußte er fast zeitgleich mit Karl von Österreich ins Exil gehen.