Frühe Eindrücke und Warnungen vor Adolf Hitler
- Frühe Eindrücke und Warnungen vor Adolf Hitler
- Von Hugo Manfred Beer (Zwischenüberschriften von uns eingefügt)
Inhaltsverzeichnis
Max Picard
„Der Schweizer Schriftsteller Max Picard hat Hitler rein physiognomisch der sozialen Schicht der Straßenhändler, Schausteller und Badefotografen zugewiesen … Hitlers Gesicht [hat] tatsächlich etwas ungemein Primitives. Man braucht nur in der langen Ahnenreihe des deutschen Heeres und der Repräsentanten deutscher Politik die Köpfe eines Scharnhorst, Gneisenau, Stein, Bismarck, Moltke und Ludendorff mit einer Porträtfotografie des Führers zu vergleichen, dann spürt man sofort bis in die Fingerspitzen, daß mit dem unbekannten Gefreiten des Ersten Weltkrieges schon rein äußerlich gesehen die große Tradition einfach abbricht.[1]
Auch seine Sprache erreichte nur selten die geschliffene Treffsicherheit und plastische Bildkraft, die z. B. Mussolinis Reden und Aufsätze auszeichnet. Hitlers Ansprachen waren viel zu lang, er wiederholte sich viel zu oft und es fehlte ihm an Klarheit. Die Kraft des Willens, die Leidenschaft, die Intensität des Drohens und der Kampfeslust waren es, die den Zuhörer gefangennahmen, niemals oder selten das Thema an sich. …
Was uns an diesen Verlautbarungen über Fragen der Außenpolitik und Diplomatie, der Fremdvölker, des Juden- und Rassenproblems, der Religion, Kirche und Erziehung, der NS-Weltanschauung und Propaganda, der Ernährung und Verwaltung, der Geschichte, Kunst usw. auffällt, ist immer wieder Mangel an Großmut und Weisheit, an gelassener Würde … an menschlichwarmer Aufgeschlossenheit gegenüber Alltagsdingen …
Was Hitler zudem rein thematisch vorbrachte war weder besonders geistreich noch substantiell interessant. Wenn man von der ideologischen Verbrämung und der oft recht willkürlichen Interpretation absieht, stellen seine Äußerungen meist Binsenweisheiten oder mehr oder weniger zweckbestimmte höchst primitive Ansichten dar, wie z. B. seine Pläne, die Schulbildung auf das im plattesten Sinn Unentbehrliche und Nützliche zu beschränken.“
Oswald Spengler
In derselben Quelle steht: „Oswald Spengler hat bereits im Jahre 1924 Adolf Hitler als den Mann bezeichnet, der die Geschäfte der Feinde Deutschlands - sicher unbewußt - wirkungsvoll betreibe und das Reich zerstören werde. Von allem Anfang an warnte er immer wieder, soweit ihm dies möglich war, vor dem Vordergrundagitator, der die Forderungen eines bewußt großzügigen, sozialsoldatischen Arbeits- und Industriestaates verfälschte, ideologisch entwerte und entwürdige und so den Untergang des Abendlandes, statt ihn aufzuhalten, nur noch beschleunigen würde.
Auch nach der Machtergreifung machte Spengler kein Hehl aus seiner Ablehnung des Diktators. Er verurteilte dessen Antisemitismus, „weil jeder Jude, der Deutschland nütze, ein Gewinn sei und zum andern man Rasse habe, jedoch keiner gehöre“. Im ersteren Falle sei es Schicksal, in letzterem wäre es Zoologie und nicht Politik. Vor allem beanstandete er das, was Hitler „Weltanschauung“ nannte.
Denn „Weltanschauungen sind“, so sagte Spengler, „das gefährlichste Element für weltpolitisches Planen. Indem solche den jederzeit austauschbaren, zeitlich und gehirnbedingten Formen einen realen Wert zuerkennen und dann diesen fiktiven Wert gewachsenen Gewaltanordnungen wie denen der Weltmächte entgegenstellen, reizen sie bloß, um dann bei echten Machtauseinandersetzungen wie Seifenblasen zu platzen und die tragenden Gebilde zerstört zurückzulassen. Im übrigen läßt sich der jahrundertealte Kurs des englischen Empires nicht durch eine problematische Weltanschauung wie diejenige Hitlers aus seiner ruhigen Fahrt bringen“.
Wenige Jahre vor seinem Tode vollendete Spengler sein Buch „Jahre der Entscheidung“. Ein Werk, das in Wirklichkeit eine erste, stolze und vornehme Oppositionsschrift gegen Hitler war. Wer es zu lesen versteht, spürt in jedem Satz, mit welcher Sehschärfe hier in Form von sachlichen Feststellungen der rationalen, technischen, räumlichen und geschichtslogischen Tatsachen die „etwaigen Planungen“ Hitlers ad absurdum geführt worden sind.
Ja, das Überraschende an den Ausführungen Spenglers ist, daß er Hitlers wesentliche Fehler bereits zu einer Zeit (1933-1934) vorausgesehen hat, als dieser selbst derartige Pläne noch gar nicht ernsthaft erwogen hatte. So lesen wir z. B.: „Jeder Angriff auf die Sowjetunion vom Westen her ist völlig aussichtslos und muß unter allen Umständen scheitern.“ Ein weiteres Zitat aus „Jahre der Entscheidung“ lautet: „Italien ist nur eine Großmacht, soweit die Person Mussolinis reicht und jedes Bündnis mit diesem Land, das dies nicht bemerkt, birgt schwerste Gefahr in sich.“
Hitler war viel zu ungeistig, um auch nur flüchtig an Spengler interessiert zu sein, und selbst wenn er - nach einer allerdings ergebnislos gebliebenen Aussprache mit dem Geschichtsphilosophen und Mathematiker - dessen Betrachtungen über England, die Vereinigten Staaten, Japan usw. gelesen haben sollte, so erkannte er sie doch wohl kaum als für sich verbindlich an.
Um so nachdenklicher muß uns heute Spenglers privates Urteil über Hitler stimmen: „Hitler hat alle Fehler eines Parteimannes ohne die großen Tugenden des Staatsmannes. Alles an ihm und in ihm ist verkrampft, ohne schöpferische Lösung. Er ist eine tödliche Gefahr, morbid als Kulturwesen und unpraktisch im Rahmen der modernen Zivilisation. Ich leide Furchtbares, wenn ich ihn bedenke.“
Es ist die absolute Leere, das „Nihilistische“ in Hitler, was einen Mann wie Oswald Spengler so sehr bedrückt hat -, das instinktive Ahnen der rachsüchtigen Zerstörungswut, von der dereinst der Abgang des „Führers der Deutschen“ nach Erfolgen und Mißerfolgen begleitet sein würde. Und sehr wahrscheinlich hätte der letzte große Denker des „sterbenden Abendlandes“ - wenn er das Ende des Reiches noch erlebt haben würde - Adolf Hitler eine gewaltige Persönlichkeit genannt - aber neben dem Hunnen Attila, der „Gottesgeißel“.
Auch Hitler als Person war deshalb kein Zufall, weil er an die Gesamtheit der Nöte und Tendenzen anknüpfte und sich mit seinen politischen und „weltanschaulichen“ Forderungen im Zuge der allgemeinen Sehnsüchte bewegte. Er konnte auf ein Verstandenwerden bei den sozialen Klassen und den nationalen Schichten rechnen, an die er sich mit seinen dehnbaren Schlagworten und Programmpunkten richtete. …
Das Besondere liegt in der prophetischen Verbrämung seiner politischen Absichten, die er als Werkzeug der „Vorsehung“ wie eine für das Jahrtausend bestimmte Welt- und Gottesanschauung verkündete … sie wird ihn vor dem Blick fernerer Zeiten zu einem zu großen Zerstörer erniedrigen.
Forderung nach Verbot der Werke Spenglers
„Anfang September 1933 war schon ein schriftliches Ersuchen des Reichspropagandaleiters Goebbels eingelaufen … in dem das Verbot der Bücher von Oswald Spengler gefordert wurde. Ich hatte ein sofortiges Eingehen auf diese Forderung unterlassen. … Am 10. Oktober 1933 wurde ich zu Hitler zitiert: …Sie haben meinen Befehl nicht ausgeführt, der Ihnen durch den Parteigenossen Goebbels übermittelt wurde. Nämlich die Sudeleien dieses Spengler zu verbieten. Warum verzögern Sie die Sache? Ich antwortete: Ich halte ein solches Verbot für wirkungslos. … Man soll die staatliche Autorität nicht durch Anordnungen, die nicht realisierbar sind, gefährden. Das muß Grundsatz für das Funktionieren der staatlichen Verwaltung bleiben. Anordnungen, deren Durchführung nicht erzwungen werden kann, machen das Schwert der Obrigkeit stumpf. … Den ,Untergang des Abendlandes’ zu verbieten wäre wirkungslos, weil hunderttausend Bände dieses Werkes in den Bücherschränken der deutschen Bürger stehen, ich vermute unaufgeschnitten, weil es zum guten Ton und zur Mode gehört, die Bücher zu kaufen, wenn man auch die schwere Kost ungelesen beiseite stellt. … Man kann auch die Werke Schillers nicht mehr verbieten.“
(Hitler: „Man kann Schillers Werke nicht mit diesem pessimistischen Geschreibsel vergleichen, das sind jüdische Machwerke, elender Pessismus, der die Deutschen fertigmacht für den Bolschewismus.“) „Ich versuchte es mit einem neuen Einwurf: ,Aber Spengler ist gar kein Jude, mein Führer. Ich kenne ihn persönlich. Er stammt von niedersächsischen Handwerkern ab’. Hitler: ,Ich sage Ihnen, ich kenne ihn noch besser, und er ist für mich ein Jude. Und der ,Untergang des Abendlandes’ ist ein destruktives, elendes Machwerk’, schrie er erbost. Ich wagte zu erwidern, aber die Polizei kann aus rein technischen Gründen nicht in Aktion treten.
Da griff Goebbels ein: Es liegt auch viel mehr an dem neuen Buch Spenglers ,Jahre der Entscheidung’. Das ist ein ganz offener Angriff gegen unsere Weltanschauung und gegen die Partei. Es ist eine freche Verunglimpfung unserer Absichten. Ich erwiderte: Ich habe das Buch gelesen. Ich finde, daß es eine ungewöhnlich geistreiche Analyse unserer Zeit ist und daß man vieles zu Notiz nehmen muß, was auch für die deutsche Lage beachtlich ist. … Und worauf es bei einer polizeilichen Maßnahme ankommt: das neue Spenglerbuch ist längst verkauft. Wenn sich noch Exemplare im Buchhandel befinden, so werden sie, im Falle eines Verbotes unter dem Ladentisch verkauft werden. Dadurch wird alles in allem erst die Aufmerksamkeit auf seinen Inhalt gelenkt. Hitler sagte dann noch mit einem Anflug von Humor: Also, Sie wollen nicht, dann tun Sie, was Sie nicht lassen können und studieren Sie ihren Freund Spengler.“
Hanfstaengel
Mehrfach in diesen beiden so entscheidenden Jahren (1933-1934) hatte auch ein Mann auf Hitler Einfluß zu nehmen versucht, der in seiner Geschichtsphilosophie den sozial-militanten Arbeitsstaat, den Cäsarismus, als unausweichliche Spätform des staatlichen Lebens aller alten Kulturvölker prophezeit hatte. Später ließ sich Hitler doch noch überreden, mit Spengler im Hanfstaengelschen Hause in München-Bogenhausen und später noch einmal in Bayreut zusammenzutreffen.
Dr. Hanfstaengel mochte sich Gutes davon erhoffen, Hitler mit einem so klugen und hochgebildeten Mann zusammenzuführen. Doch was dabei herauskam, war nur, daß Hitler versuchte, durch endlose Monologe Spengler von der Richtigkeit seiner Lehre zu überzeugen. … Als er wenige Jahre darauf starb, war ihm der Tod eine Erlösung von qualvoller Sorge um Deutschland. In einem Brief an Hitler hatte er 1934 offen die Prophezeiung gewagt, in zehn Jahren würde wohl kein Deutsches Reich mehr existieren. Er irrte sich nur um wenige Monate!
General Ludendorff
Nach der Wiedergabe der Eindrücke des Schweizer Schriftstellers Picard und des Kulturphilosophen Spengler über Hitler geben wir die Botschaft bekannt, die General Ludendorff am 1. 2. 1933 an Reichspräsident von Hindenburg richtete:
- „Sie haben durch die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler einem der größten Demagogen aller Zeiten unser heiliges deutsches Vaterland ausgeliefert. Ich prophezeie Ihnen feierlich, daß dieser unselige Mann unser Reich in den Abgrund stoßen und unsere Nation in unfaßliches Elend bringen wird. Kommende Geschlechter werden Sie wegen dieser Handlung in Ihrem Grabe verfluchen.“
Inzwischen zog, durch den spanischen Bürgerkrieg entfacht, auch für Deutschland eine Kriegsgefahr herauf. Durch den Einsatz der deutschen Legion Condor wurde diese Gefahr verstärkt. Kriegsminister von Blomberg und General v. Fritsch gelang es nicht, Hitler von seinen Kriegsplänen in Spanien abzubringen. Dadurch kam eine Begegnung zwischen Ludendorff und Hitler am 30. März 1937 zustande. Den Wortlaut des Gespräches über außenpolitische Fragen gab Ludendorff wie folgt wieder:
- Hitler: „Die Demokratien sind morsch. Sie schwätzen nur und handeln nicht. Die jungen totalitären Staaten werden die Geschichte gestalten und eine neue Ordnung in Europa schaffen. Der Krieg in Spanien hat das deutlich gezeigt.“
- Ludendorff: „Wenn Sie nicht das Unheil heraufbeschwören, einen Krieg anzufangen - der sich sehr bald zu einem Weltkrieg ausweiten wird - und das wird jeder Krieg - dann können Sie noch manches erreichen. Die Leistungen unserer Truppen im Weltkrieg sind in den andern Völkern unvergessen. Sie werden sich scheuen, Deutschland noch einmal einzukreisen in der Hoffnung, es zermalmen zu können. Ich warne Sie aber sehr ernst davor, einen Krieg zu beginnen. Wir müssen uns überhaupt aus jeder kriegerischen Verwicklung heraushalten. Nur ein Verteidigungskrieg kommt für Deutschland in Frage, sonst nur strikte Neutralität. Die neue Armee braucht sowieso noch Jahre, bis sie diese Aufgabe erfüllen kann.
- Nach allem, was ich über den Aufbau der neuen Wehrmacht erfuhr, wird Ihnen zu Beginn des Krieges großer Erfolg sicher sein. Es mag sogar sein, daß sie bis vor Kairo und Indien kommen. Der weitere Krieg wird aber zur völligen Niederlage führen. Die Vereinigten Staaten werden diesmal in noch ganz anderem Ausmaß eingreifen und Deutschland wird schließlich vernichtet.“
- Hitler: „Ich bin weit davon entfernt, an einen Krieg zu denken. Als Frontsoldat des Weltkrieges will ich meinem Volk den Frieden erhalten. Aber die Demokratien sind morsch. Ich werde meine Ziele ohne Krieg erreichen.“
- Ludendorff: „Ich glaube Ihnen nicht, Herr Hitler.“
Nach seiner Rückkehr nach Tutzing hat Ludendorff gesagt: Es ist alles vergebens. Dieser Mann wird Deutschland ins Unglück stürzen. Auf die Frage, was dagegen noch geschehen könne, erwiderte Ludendorff: Wenn Hitler einen Krieg anfängt, dann ist er die ersten Wochen ganz in der Hand seiner Generale. Ich werde dafür sorgen, dann wird er gestürzt. Das Volk wird es verstehen.“
Diese Aussprache zwischen Ludendorff und Hitler fand am 30. März 1937 statt. Am 20. Dezember 1937 starb General Ludendorff. Am 4. Februar 1938 nahm Hitler handstreichartig die Führung der Wehrmacht an sich, indem er den Generalstabschef General v. Fritsch und den Kriegsminister v. Blomberg ihrer Ämter enthob. Die Begründungen für diese Maßnahmen, denen weitere folgten, schufen Risse im Gefüge der Wehrmacht, die im Attentat am 20. Juli 1944 deutlich Ausdruck fanden. Hitler meinte seine politischen Ziele wie beim Einmarsch in Österreich („Blumenkrieg“), später im Sudetengebiet, dann in der Auflösung der „Resttschechei“ ohne Krieg, wie er zu Ludendorff gesagt hatte, fortsetzen zu können. Der Polenkrieg sollte ihn eines andern belehren.
Walter Warlimont
An dieser Stelle schalten wir die Erinnerungen General Walter Warlimonts ein, der als Zeitzeuge zu uns spricht. Seine Memoiren führen dem Leser den stufenweisen Niedergang des deutschen Heeres und Reiches durch Hitler vor Augen, wie er vom Soldaten Ludendorff und dem Kulturphilosphen Spengler vorausgesagt worden war. Die Fülle der Einzelheiten ist so groß, daß nur Schlaglichter gebracht werden können. Sie beweisen das Geschehen „Im Hauptquartier der deutschen Wehrmacht“ in vollem Umfang.
Seine Erinnerungen leitet er mit den folgenden Worten ein: „Bei Beginn des Zweiten Weltkrieges gab es kein geschlossenes, arbeitsfähiges Hauptquartier der obersten deutschen Führung. … Am Abend des 1. September 1939 trat im Wintergarten der Alten Reichskanzlei in Berlin - ganz improvisiert - ein bunter Kreis von Offizieren der Wehrmacht und ,Würdenträgern’ zusammen, um den Lagebericht zu hören.
Dem hierzu herbeigerufenen Berichterstatter des Wehrmachtführungsstabes, Oberst d. G. Walter Warlimont, wollte die Szene, an frühere Bühnenbilder von Wallensteins Lager erinnernd, fast die Sprache verschlagen. Er kam mit seiner Meldung auch nicht weit: Hitler interessierte sich hauptsächlich für die Zahl der Kilometer, die im Vormarsch über die polnischen Grenzen zurückgelegt worden wären und die ihm dann auch von beflissenen Adjutanten schnell und laut zugerufen wurden.
Göring wußte aus Meldungen ,seiner’ Luftwaffe alles viel besser und hielt sich außerdem in seiner Verachtung jeglicher Generalstabsarbeit noch höhnend über die ihm kurz vorher vom Wehrmachtführungsstabe zugestellte ,Weisung Nr. 1 für die Kriegführung auf, wobei er - trotz Hitlers Unterschrift - die unvergessenen Worte gebrauchte ,Was soll ich mit dem Wisch? Das weiß ich doch längst alles.’
Besucher und Ordonnanzen kamen und gingen. Unbemerkt ging auch der Berichterstatter - tief betroffen von dem Gegensatz zwischen solchem Treiben und dem Ernst der Stunde“. … „Am 3. September setzte sich dann der ,Führerzug’ vorwiegend belegt von der sogenannten ,persönlichen Umgebung’, in der das nicht-militärische Element weit überwog, mit noch unbestimmtem Ziel nach Osten in Bewegung. …
Im übrigen war es für einen Generalstabsoffizier in hohem Maße abstoßend und erschreckend, das Bild des Hexenkessels zu erleben, das die Reichskanzlei schon in jener Stunde darbot. … Wenn er dann trotzdem in überraschendem Entschluß aus Berlin aufbrach, so war dies wahrscheinlich einmal in der unsteten Wesensart dieses Mannes begründet, der das ,Improvisieren’ jedem überlegten Handeln vorzog. …
Viel wichtiger dürfte es ihm gewesen sein, seine übliche Umgebung aus Partei und Presse, die Photographen und die Ärzte, die Sicherheitsbegleitung, und selbst das vertraute weibliche Unterpersonal, die Zuhörer bei nächtlicher Rede und Musik, nicht zu entbehren. Dazu kam noch, daß er auf ganz ähnliche Weise in den ,Blumenkriegen’ durch die Lande gefahren war, nach Österreich, durch das Sudetenland und schließlich nach Prag. Auch der Feldzug gegen Polen sollte ja nur ein ,besonderer Einsatz’ sein.“
In dem Kapitel „Erfahrungen während des Feldzuges gegen Polen“ schreibt General Warlimont weiter „… Keine Verpflichtung konnte größer sein, als die, Volk und Land vor der Katastrophe eines Zweiten Weltkrieges zu bewahren…“.
„Damit auch die Groteske nicht fehle“, berichtet General Warlimont weiter, „einige Beobachtungen aus dem Hauptquartier in Zoppot. Am frühen Morgen sammelten dort, an der Auffahrt zum Hotel in Doppelkolonne 20 bis 30 Wagen zur Fahrt auf das Gefechtsfeld nördlich Gdingen. General Rommel, der Kommandant des Hauptquartiers mußte diesen Troß mit Hitler an der Spitze, in Marsch setzen. Auf die erstaunte Frage, warum denn in Doppelkolonne gefahren werde, erhielt der Besucher von Rommel die Antwort, daß er diese ,Marschgliederung’ eingeführt habe, weil sie am besten geeignet sei, den Rang- und Vorfahrtsansprüchen der nicht der Wehrmacht zugehörigen Besucher gerecht zu werden, die sich inzwischen zahlreich im Hauptquartier eingefunden hatten. …
Trotzdem mußte Rommel an diesem Tage eine weitere peinliche Erfahrung machen. Als sich die Doppelkolonne auf schmalen Feldwege nicht mehr aufrechterhalten ließ und plötzlich der größere Teil der Wagen an einer Sperre angehalten wurde, während die Spitze mit Hitler davonfuhr. Obwohl sich unter den Zurückgebliebenen sogleich herumsprach, daß ein kurzer Besuch in einem nahen Feldlazarett der Anlaß für die Unterbrechung war, erhob Martin Bormann, Leiter der Parteikanzlei, auf dem noch kaum aufgeräumten Gefechtsfeld ein wütendes Geschrei und beschimpfte General Rommel, wegen dieser vermeintlichen Zurücksetzung in unerhörter Weise.
Rommel schien gegen solche Frechheit machtlos. Auch als ihm der Besucher noch in derselben Minute und an derselben Stelle seine Empörung über das Verhalten Bormanns zum Ausdruck brachte, bat Rommel ihn nur, darum doch auch dem Chef-Adjutanten der Wehrmacht, Schmundt, im gleichen Sinne, über den Vorfall zu unterrichten.“ … „Zum Hauptberichterstatter bei der ,Lage’ schwang sich innerhalb kurzem General Jodl auf, … wodurch der Chef OKW (Keitel) und sein Chef des WFStabes vollends in den Bann Hitlers gerieten, während sie sich in gleichem Maße von der Wehrmacht und besonders vom Geiste ihres eigenen Wehrmachtteils, des Heeres, entfernten.“
In diesem Bericht General Warlimonts lesen wir ferner: „Der Glaube Jodls an Hitler prägte weiterhin sein Wesen und Handeln: ,Wir gewinnen diesen Krieg und wenn er hundertmal einer Generalstabsdoktrin widerspricht’ schrieb er am 15. Oktober 1939 inmitten der Wirren mit dem OKH um die Offensive im Westen, ,weil wir die bessere Truppe, die bessere Ausrüstung, die besseren Nerven und eine geschlossene zielbewußte Führung haben’ wobei das mit Zündstoffen überladene Gebiet der nationalsozialistischen Kultur- und Besatzungspolitik einfach ignoriert wurde. …
In Ergänzung der Szenen kopfloser Erregung, die das Tagebuch des Chefs WFStab drastisch genug wiedergibt, sei hierzu noch ein eigener Eindruck überliefert, der sich dem Verfasser[2] in jenen kritischen Tagen gelegentlich einer Vorsprache bei Jodl in der Reichskanzlei darbot, als Hitler, unbeachtet auf einem Stuhl in der Ecke hockend und in dumpfem Brüten vor sich hinstarrend, das Heil anscheinend nur noch von neuen Nachrichten erwartete, die er, um keinen Augenblick zu versäumen, gleich gemeinsam mit dem Chef WFStab am Fernsprecher aufnehmen wollte.
Dem Chef L blieb damals nur, sich von diesem Bild der Würdelosigkeit abzuwenden. Unwillkürlich stellten sich aber auch Vergleiche mit den großen Feldherren der deutschen Geschichte ein, die sich nach Anlage, Selbstzucht, und Erfahrung zu ihrem Führertum berufen fühlen durften. Rühmt doch heute noch die Nachwelt einem Moltke die unerschütterliche Ruhe und Sicherheit nach, die auf den Schlachtfeldern Böhmens und Frankreichs immer wieder Staunen weckte.
Über die Stimmung und Lage im Führerhauptquartier hat General Jodl vor dem Internationalen Militärgericht in Nürnberg folgendes ausgesagt: ,Das Führerhauptquartier war eine Mischung zwischen einem Kloster und einem Konzentrationslager. … Von vielen erhebenden Momenten abgesehen, war unser Leben im Führerhauptquartier für uns Soldaten letzten Endes doch ein Martyrium.
Denn es war kein militärisches Hauptquartier, es war ein ziviles. Und wir Soldaten waren dort zu Gast und es ist nicht leicht, irgendwo fünfeinhalb Jahre zu Gast zu sein.’ Warlimont schreibt weiter: „Hitler war keinem der ihn umgebenden Offiziere ehrlich verbunden. Bedenkenlos erspähte und nutzte er ihre Stärken und Schwächen und war in jedem Augenblick bereit, auch und gerade auf sie die Drohung aus seiner Ansprache an die hohen Befehlshaber vom 23. November 1939 anzuwenden: ,Ich werde vor nichts zurückschrecken und jeden vernichten, der gegen mich ist.’
Ein anderes Schlaglicht über Hitlers vorübergehendes Hauptquartier ,Felsennest’ wirft Warlimonts Bericht über den Tagesablauf an diesem Ort: ,Wenigstens zweimal innerhalb von jeweils 24 Stunden sammelte die Abt. L. die Meldungen von Heer, Marine und Luftwaffe … mit denen General Jodl den ,Lagevortrag’ vorbereitete.
Dazu versammelten sich unter Hitlers Führung die Angehörigen der ,maison militaire’. So fand sich der engste Kreis zu unregelmäßigen Zeiten und unter ständigem Kommen und Gehen im Lageraum zusammen. … Aus weitschweifigem Gerede entstanden Ansichten, aus Ansichten Entschlüsse, aus Entschlüssen schriftliche ,Weisungen’ oder sogar direkte Eingriffe in die Maßnahmen selbst nachgeordneter Kommandostellen des Heeres. …
In diesem bald von Spannungen überladenen Nebeneinander der beiden höchsten Führungsstellen stand auf Seiten des OKW, alles beherrschend ein Hitler, der voller Ungeduld und Mißtrauen und ohne je die operativen Grundgesetze von Zeit und Raum zu berücksichtigen, das Ergebnis des Geschehens nicht abwarten konnte … dann das Übergewicht seiner Stellung mißbrauchte, um der Entwicklung nach Belieben in den Arm zu fallen. Eng ihm zur Seite hielt sich Keitel.“
Nachdem General Warlimont zum Vortrag bei Hitler am Berghof eingetroffen war, erschien etwas verspätet und in seiner Haltung ganz der unnötig belästigte, überbeschäftigte Mann, der Reichsaußenminister v. Ribbentrop. Während es dem Chef L immerhin gelang, wenigstens für die Zeit seiner Berichterstattung die Aufmerksamkeit Hitlers zu gewinnen, unterbrach Ribbentrop die Darstellung Warlimonts … mit den unvergessenen Worten: ,Was soll Ihnen das alles, mein Führer! Wenn in Afrika wirklich einmal etwas passieren sollte, dann braucht doch General Rommel nur seine Panzer umzudrehen, um dem ganzen Spuk ein Ende zu machen …’
Sprach’s und fuhr mit einer Hand, die er hierzu vorübergehend aus der Rocktasche zog, auf der vor Hitler ausgebreiteten Karte des Mittelmeergebietes von der Gegend der ägyptisch-libyschen Grenze über Tunis, Algerien und Marokko hinweg bis hinunter nach Dakar! Die Peinlichkeit einer eigenen Erwiderung auf diesen Einwurf wurde dem General erspart, indem Hitler ihn aufforderte, ,dem Herrn Außenminister doch einmal zu sagen’, um welche Entfernungen es sich in Afrika handele, welche Landverbindungen in diesen Gebieten für die angedeuteten Panzer-Bewegungen zur Verfügung stünden und was es sonst noch an Hindernissen gebe. Über diese Bekundung einer besseren militärischen Einsicht ging jedoch auch Hitler nicht hinaus.“
Weiter lesen wir bei Warlimont: „Dieses wohl weitreichendste Konzept einer deutschen Strategie ,aller Zeiten’ ging in seinen Ursprüngen auf Hitler zurück, in dessen Namen die Abt. L schon im Februar 1941 mit der studienmäßigen Bearbeitung eines Aufmarsches in Afghanistan gegen Indien beauftragt worden war.“
Gestützt auf das Tagebuch Halders vom 7. April 1941 finden sich „Operationsgruppen“ in denen uns Spanien-Marokko, Nordafrika Ägypten, Anatolien und Afghanistan wiederbegegnen, die an die Aussprache Ludendorff-Hitler vom 30. März 1937 erinnern. Hier hatte Ludendorff Hitler gewarnt: „Es mag sogar sein, daß Sie bis vor Kairo und Indien kommen. Der weitere Krieg wird aber zur völligen Niederlage führen. Die Vereinigten Staaten werden diesmal in noch ganz anderem Ausmaß eingreifen und Deutschland wird schließlich vernichtet.“
„Die hauptsächlichsten Gründe für diese Verirrungen“ - schreibt Warlimont weiter - „Hitlers grenzenloses Mißtrauen und unbedingter Autoritätswille, die groben Mängel seines autodidaktischen Feldherrntums und dabei besonders das Unvermögen, den militärischen Grundlehren den Vorrang vor seinem Wunschdenken politisch-wirtschaftlicher und prestigegebundener Art zuzugestehen, traten in dem Feldzug gegen Rußland deutlicher noch als früher hervor. Von seiner ständigen Umgebung im Sperrkreis I und deren Glauben an die seherische Richtigkeit seines Handelns eher gefördert als gehemmt, … fand er sich weiter in seinem selbstherrlichen militärischen Gehabe bestätigt …“
Weiter lesen wir bei Warlimont: „Verkörperte Halder bei seinem Vortrag nach Wissen und Urteil, nach Sprache und Haltung die besten Traditionen des Generalstabs, so gefiel Hitler sich demgegenüber in der Rolle des Volkstribunen.“ Der Ton und das Milieu in „Besprechungen“ ist wie folgt wiedergegeben: „Keitel, der grundsätzlich nur auf ein Stichwort, oft nicht einmal auf eine Redepause Hitlers wartete, um ihm unterschiedslos mit Wort und Geste beizupflichten. So auch Jodl, der - wenigstens eine Hand immer in der Hosentasche - bei strittigen Fragen schwieg.
Andere ,Beisteher’ ohne Verantwortung bedienten Hitler vielfach nach Versammlungsart mit Anmerkungen und Zwischenrufen. … Bis zur physischen Unerträglichkeit mußte auf Halder und andere der Redefluß Hitlers wirken, in dem Altes und Neues, Wichtiges und Unwichtiges, sich ständig wiederholend in hemmungslos dahinrauschendem Strom die nächstliegenden, konkreten Fragen hinwegschwemmte. Dazu kamen langatmige Ferngespräche mit Heeresbefehlshabern der Front, mit Ministern und Staatssekretären, die in diesen Gesprächen befragt, belehrt und bedroht wurden. …
In den Lagebesprechungen jener Zeit sprach Hitler immer wieder aus: ,Die Generale haben genauso zu gehorchen wie der kleine Musketier … Ich führe und da haben sich alle unterzuordnen. … Ich trage die Verantwortung! Ich allein und niemand anders! Mit Stumpf und Stiel werde ich jede andere Auffassung ausrotten.’ Am 22. Dezember 1941 wurde General Guderian seines Kommandos enthoben.
In der Folge nahmen dann diese Äußerungen einer schrankenlosen Gewaltherrschaft auch noch schimpfliche Formen an, indem beispielsweise der General Förster kurzerhand ,abgesetzt’, Generaloberst Hoeppner wegen ,Ungehorsam und Feigheit’ aus der Wehrmacht ausgestoßen wurde. Vom 15. Januar stammt der Vermerk Halders: ,v. Leeb bittet um Ablösung, Strauß kann nicht mehr, v. Reichenau Schlaganfall.’ Aus jenen Tagen stammt Ribbentrops Wort: ,Die russische Kälte ist durch Hitlers Genie besiegt worden.’“[3]
„Der 28. Juni 1942 stellte Hitler erstmals vor den ganzen Umfang der neuen, selbstangemaßten Aufgabe, große Heereskörper in einer äußerst gewagten Angriffsoperation als Oberbefehlshaber des Heeres führen zu sollen. Jetzt erst stand die eigentliche Bewährung dieser Anlagen bevor, jetzt erst mußte die Aufgabe gemeistert werden, die bis dahin den ,Fachleuten’ überlassen geblieben war, die frei im Raume schweifenden Gedanken mit den gegebenen Verhältnissen … und den Faktoren von Raum und Zeit in Einklang zu bringen. …
Damals hielt es Hitler nunmehr mit seiner Verantwortung für Wohl und Wehe des Heeres im Osten für vereinbar, Wochen und Monate auf dem Berghof zu verbringen, ohne den Chef des Generalstabs des Heeres, der mit allen Teilen in Ostpreußen zurückblieb, mehr als etwa einmal in der Woche zum Vortrag zu sehen. Der natürliche Unterschied zwischen ihm (Hitler) und einem militärischen Oberbefehlshaber, der sich ein ganzes militärisches Leben lang auf eine so große Berufung vorbereitet und ihr allein zu dienen hat, trat klar zutage. … Vom Feinde nahm er lediglich an, was ihm gefiel, und weigerte sich oft genug sogar, das Nichtgefallende nur anzuhören. …
Im persönlichen Bereich fehlte Hitler jede Selbstkritik, an seine Stelle trat ein argwöhnisches Nörgeln und Wüten gegen alle, durch das dem Heere nach und nach die besten Köpfe genommen wurden und die verdienten Generale noch der Nachwelt als Feiglinge und Verräter überantwortet wurden.“ Am Ende dieses Kapitels zitiert Warlimont aus Halders Tagebuch (6. 7. 1942): „Im Laufe des Tages verschiedene Ferngespräche mit v. Bock (diese sehr unerquicklich), mit dem Führer, mit Keitel, v. Sodenstern HGr. Kdo Süd - immer wieder um die gleichen Fragen. Dieses Durcheinandertelefonieren in Dingen, die man ruhig überlegen und dann klar befehlen sollte, ist qualvoll. Am unerträglichsten ist die urteilslose Rederei von Keitel.“
Halder im Tagebuch am 23. Juli und später: „Die immer schon vorhandene Unterschätzung der feindlichen Möglichkeiten nimmt allmählich groteske Formen an und wird gefährlich. Es wird immer unerträglicher. Von ernster Arbeit kann nicht mehr die Rede sein …“ Am 8. August: „Von allem Gerede unbeirrt, hielt ihm Kluge die unvergessen gebliebenen Worte entgegen: ,Dann übernehmen Sie, mein Führer, aber auch die Verantwortung’ und ging davon. … Von der Führung, so endete er schließlich seine Tirade verlange ich die gleiche Härte wie von der Front. Mit erhobener Stimme gab Halder darauf die Antwort: ,Ich habe sie mein Führer. Aber da draußen’, fuhr er, nun auch selbst höchst erregt, unter allgemeiner äußerster Spannung fort, ,fallen die braven Musketiere und Leutnants zu tausenden, nur weil die Führung nicht den einzig möglichen Entschluß durchführen darf und ihr die Hände gebunden sind.’
Hitler, einen Schritt zurücktretend, maß Halder mit einem langen, haßerfüllten Blick und stieß dann heiser hervor: ,Generaloberst Halder, was erlauben Sie sich mir gegenüber für einen Ton? Sie wollen mir klarmachen, wie es dem Mann an der Front zumute ist? Was haben Sie überhaupt an der Front erlebt? Wo waren Sie im Ersten Weltkrieg? Und Sie wollen mir vorwerfen, ich verstünde die Front nicht. Ich verbitte mir das! Das ist unerhört!’ Die Teilnehmer der Lagebesprechung stoben betroffen auseinander.“[4]
„Der Verfasser hat Hitler … damals einige Wochen lang nicht mehr zu Gesicht bekommen. In der damit gewonnenen Distanz wollten ihm die Vorgänge von immer größerer Bedeutung für das Ganze erscheinen. Die volle Erkenntnis fiel ihm aber, wie er glaubte, erst zu, als er einige Zeit später wieder zu den Lagebesprechungen befohlen wurde.
Beim Eintritt in die Blockhütte von Hitler, statt eines Grußes nur mit einem langen, haßsprühenden Blick gemessen, überkam ihn plötzlich der Gedanke: Dieser Mann hat sein Gesicht verloren; er hat eingesehen, daß sein todbringendes Spiel dem Ende zugeht, daß Sowjetrußland auch im zweiten Anlauf nicht niederzuwerfen sein wird und daß der Zweifrontenkrieg, in frevelhafter Willkür von ihm entfesselt, nunmehr das Reich erdrücken muß.
Darum, so liefen die Gedanken weiter, wird ihm auch die weitere Gegenwart der Generale, die allzuoft Zeugen seiner Fehler und Irrtümer, seiner Illusionen und Phantasien gewesen sind, unerträglich erscheinen, darum will er sich plötzlich von ihnen trennen, darum andere Helfer um sich sehen, deren Glauben an ihn ebenso unbelastet wie unerschütterlich sein soll.“
Nach der oben geschilderten Szene von Hitler entlassen, wurde als neuer Generalstabschef General Zeitzler berufen, der an die Generalstabsoffiziere des OKH u. a. folgende Worte richtete: „Ich verlange von jedem Generalstabsoffizier … er muß an den Führer und seine Führung glauben. Er muß diesen Glauben auf seine Untergebenen und seine Umgebung ausstrahlen bei jeder Gelegenheit. Wer diesen Forderungen nicht entspricht, den kann ich nicht brauchen im Generalstab.“ Weiter schreibt General Warlimont: „Daß Hitler die ausgeblutete Deutsche Wehrmacht immer weiter noch als das schlechthin überlegene und zu jeder Leistung fähige Instrument früherer Tage einschätzte, und daß ihn seine nächsten Berater kaum noch in der Verfolgung seines Starrsinns gehindert haben.
Einige stenographische Fragmente aus den Besprechungen jener Tage im Hauptquartier Hitlers mögen das Bild abrunden: Der Führer: ,Jodl, arbeiten Sie den Befehl gleich für die 3. Pz. Gren. Div. aus, den man herunterschicken kann, einen Befehl, ohne mit irgend jemand zu sprechen, nach Rom hineinzufahren, mit Sturmgeschützen, und die Regierung, den König und die ganze Gesellschaft zu verhaften. … Vor allem den Kronprinzen muß ich kriegen.’ Keitel: ,Der ist wichtiger als der Alte.’ Bodenschatz: ,Das muß man organisieren, daß die sofort ins Flugzeug eingepackt und weggebracht werden.’ Der Führer: ,Ins Flugzeug, gleich weg, augenblicklich weg.’ Bodenschatz: 'Damit der Bambino nicht noch auf dem Flugplatz verlorengeht.'
Ende Juni 1944 berechnete Hitler, mit Zirkel und Lineal in der Hand, vor dem ganzen Kreise der Lagebesprechung, die geringe Zahl der Quadratkilometer, die der Gegner dort oben in der Normandie erst besetzt hielt und stellte sie in Vergleich zu der großen Landmasse Frankreichs in deutschen Händen. War dies wirklich, wie schon an jenem ersten Kriegstage gegen Polen, die Summe seiner Maßstäbe militärischer Führung? Oder meinte er, seine Umgebung auf solche primitive Weise propagandistisch beeinflussen zu sollen? Die Geste ist jedenfalls unvergessen geblieben.“
Das am 20. Juli 1944 auf Hitler verübte Attentat überstand Warlimont glimpflich. Anschließend schreibt er: „Ein äußerst makabres Nachspiel brachte noch die Lagebesprechung des nächsten oder übernächsten Tages mit sich, als Göring, der ,rangälteste Offizier’ mit Keitel in dunkler Baracke Hitler ,den Wunsch und die Forderung’ aller Teile der Wehrmacht vortrug, für die Soldaten in vollem Umfang den ,Deutschen Gruß’ zu befehlen. Hitler nahm dies Gesuch, das Göring noch als besonderes ,Zeichen unverbrüchlicher Treue zum Führer und engster Verbundenheit zwischen Wehrmacht und Partei’ hervorhob, gänzlich unbewegt entgegen. Unter den Anwesenden regte sich kein Laut.“
Mediziner
Mit den Urteilen der Mediziner um Hitler, die von Dr. Roehrs und Henning Fikentscher in Buchform überliefert sind, soll die vorliegende Arbeit abgeschlossen werden.
Dr. Theodor Morell, der am 22. 7. 1886 in Trais-Münzenberg bei Frankfurt geborene spätere Leibarzt Hitlers hatte eine bewegte Vergangenheit hinter sich: er erwarb sich die Doktorwürde über eine Frage der Kinderheilkunde, anschließend etwa neun Monate dauernde Reise als Schiffsarzt der Hamburg-Südamerika-Linie, bei Woermann und HAPAG, bis er sich als praktischer Arzt in Dietzenbach bei Frankfurt niederließ. Im Jahre 1918 ließ sich Dr. Morell im Kurfürstendammviertel von Berlin als Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten und Elektrotherapie nieder. Siebzehn Jahre später wurde er von Hitler auf Empfehlung des NS-Pressephotographen Hoffmann zum „Leibarzt des Führers“ ernannt (1936).
Diese Ernennung verfügte Hitler ohne Befragung der Reichsärzteschaft, des Reichsärzteführers, auch ohne sicherheitsdienstliche Überprüfung. Hier ist festzuhalten, daß Dr. Morell mit Gattin zu Weihnachten 1936 auf dem Obersalzberg und gastweise im Hause Hoffmann verbracht hatten. Dr. Morell wurde von Hitler zum Professor ernannt, wurde mit dem Goldenen Parteiabzeichen ausgezeichnet und am 24. 2. 1944 mit dem Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz ausgezeichnet.
Dr. Morell genoß das blinde Vertrauen des Reichsoberhauptes, aber das Mißtrauen der nächsten Standesgenossen und Fachleute im Führerhauptquartier. Die US-Amerikanischen ärztlichen Befrager beurteilten die gefangenen deutschen Ärzte als ebenbürtige Kollegen, den Leibarzt (Hitlers) dagegen als ein standesunwürdiges Geschöpf, das sich rühmte, seinen hohen Schützling langsam vergiftet zu haben. Morell blieb ungekränkt, die mitgefangenen NS-Ärzte wurden als Verbrecher bezeichnet, gejagt, bestraft, ja gehenkt oder in den Freitod getrieben. Morells riesiges Vermögen wurde freigegeben, das der anderen NS-Ärzte enteignet, die Witwen an den Bettelstab gebracht. Wirkliche und angebliche Verfehlungen von NS-Ärzten wurden jahrelang in der Presse ausgewalzt, über Morell wurde Stillschweigen bewahrt. Lange nach Morells Tod wurde verbreitet, er soll im Lager verstorben, beseitigt worden sein, nach Amerika verbracht, sich selbst entleibt haben oder in Nürnberg verurteilt und gehenkt worden sein.
Wenig bekannt wurde, daß Prof. Dr. Schenk die für Hitler verordneten „Vitamultin-Täfelchen“ gegen Kriegsende insgeheim untersuchte, wobei er zu seinem Schrecken große Mengen Koffein, Kola und vor allem Pervitin vorfand. Pervitin macht bekanntlich den Gedopten geschwätzig, reizbar, widersprecherisch, ja starrköpfig. Damit sind wir bei einer Erklärung für Hitlers Starrköpfigkeit angekommen, die bei den Lagebesprechungen im Tagebuch Halders und den Erinnerungen Warlimonts (s. o.) nachgelesen werden können.
Quellen
- Gert Buchheit: Hitler als Feldherr. Grote-Verlag Baden 1958. Seite 530-532
- Rudolf Diels: Lucifer ante Portas. Stuttgart 1950. S. 61-65
- Görlitz-Quint: Adolf Hitler. Biographie Stuttgart 1952, S. 444-445
- Hans Frank: Im Angesichts des Galgens. 1952
- Erich Ludendorff: Lebenserinnerungen Bd. III. Verlag Hohe Warte, Pähl 1955, S. 147, 164-165
- Walter Warlimont: Im Hauptquartier der deutschen Wehrmacht. Bernhard Graefe Verlag Ffm. 1962. passim
- Henning Fikentscher: Prof. Dr. med Morell. Vowinckel-Verlag Neckar-Gmünd 1975
Verweise