Providentissimus Deus
- Apostolisches Rundschreiben vom 18. November 1893
- von Papst Leo XIII.
- Die Autoritäten bei der Auslegung der Hl. Schrift.
- Die Enzyklika ist eine der ersten päpstlichen Stellungnahmen zur Problematik der modernen historisch-kritischen Exegese.
Inhaltsverzeichnis
Aus dem Rundschreiben
Die Autoritäten bei der Auslegung der Heiligen Schrift
Das Vatikanische Konzil hat die Lehre der Väter aufgegriffen, als es das Dekret von Trient über die Auslegung des geschriebenen göttlichen Wortes erneuerte und erklärte, sein Sinn sei der, daß "in Fragen des Glaubens und der Sitten, soweit sie zum Gebäude christlicher Lehre gehören, jener als der wahre Sinn der Heiligen Schrift anzusehen sei, den die heilige Mutter Kirche festgehalten hat und festhält, deren Aufgabe es ist, über den wahren Sinn und die Auslegung der heiligen Schriften zu urteilen; und deshalb ist es niemandem erlaubt, die heilige Schrift gegen diesen Sinn oder auch gegen die einmütige Übereinstimmung der Väter auszulegen“. …
Im übrigen ist der Analogie des Glaubens zu folgen, und die katholische Lehre, wie sie von der Autorität der Kirche anerkannt ist, ist als höchste Norm anzuwenden.
Nun aber kommt den heiligen Vätern, durch die "– nach den Aposteln – als Pflanzer, Begießer, Erbauer, Hirten und Ernährer die heilige Kirche gewachsen ist“, immer dann höchste Autorität zu, wenn alle ein biblisches Zeugnis als zur Glaubens- und Sittenlehre gehörig in ein und derselben Weise erklären: denn gerade aus ihrer Übereinstimmung geht glänzend hervor, daß es nach dem katholischen Glauben so von den Aposteln überliefert wurde. …
Der Exeget soll deshalb jedoch nicht meinen, ihm sei der Weg versperrt, dort, wo es einen triftigen Grund gibt, in Forschung und Auslegung noch weiter voranzuschreiten, sofern er nur jenem von Augustinus weise vorgelegten Gebot gewissenhaft gehorcht, nämlich vom wörtlichen und gleichsam entgegentretenden Sinne keinesfalls abzuweichen, sofern ihn nicht etwa entweder die Vernunft festzuhalten verbietet oder die Notwendigkeit aufzugeben zwingt.
Den übrigen katholischen Exegeten kommt zwar eine geringere Autorität zu; da jedoch die Bibelstudien in der Kirche einen beständigen Fortschritt erzielten, ist ihren Kommentaren gleichfalls die gebührende Ehre zu erweisen; denn aus ihnen kann man vieles bequem entnehmen, um Entgegengesetztes zu widerlegen, um Schwierigeres zu entwirren. …
Hilfswissenschaften für die Auslegung der Heiligen Schrift
Für die Lehrer der heiligen Schrift ist es notwendig und für die Theologen ziemt es sich, jene Sprachen kennengelernt zu haben, in denen die kanonischen Bücher ursprünglich von den Verfassern der Hl. Schrift aufgezeichnet wurden. …
Gerade diese aber müssen zu dem Zweck geschulter und geübter in der wahren Methode der Kritik sein: fälschlicherweise und zum Schaden für die Religion wurde nämlich unter dem ehrenvollen Namen "höhere Kritik“ eine Kunst eingeführt, in der das Urteil über Ursprung, Unversehrtheit und Autorität jedweden Buches aus – wie sie sagen – allein inneren Gründen zum Vorschein kommen soll. Dagegen ist es klar, daß in Fragen der Geschichte, wie etwa der Ursprung und die Erhaltung der Bücher, die Zeugnisse der Geschichte vor den übrigen gelten und diese so eifrig wie möglich zu erforschen und zu untersuchen sind: daß jene inneren Gründe aber meist von keiner solch großen Bedeutung sind, daß sie für die Sache – es sei denn, zu einer gewissen Bestätigung – herangezogen werden könnten. …
Deshalb, weil die Verteidigung der heiligen Schrift eifrig betrieben werden soll, sind aber nicht alle Auffassungen in gleicher Weise in Schutz zu nehmen, die die einzelnen Väter oder die nachfolgenden Exegeten bei ihrer Erklärung geäußert haben: sie haben, je nachdem die Meinungen der Zeit waren, bei der Erörterung von Stellen, wo Naturkundliches behandelt wird, vielleicht nicht immer wahrheitsgemäß geurteilt, so daß sie manches behaupteten, was jetzt weniger gebilligt werden könnte.
Deshalb ist bei ihren Auslegungen geflissentlich zu unterscheiden, was sie denn tatsächlich als den Glauben betreffend oder mit ihm aufs engste verbunden lehren, was sie in einmütiger Übereinstimmung lehren; denn "in dem, was nicht notwendig zum Glauben gehört, war es den Heiligen erlaubt, verschiedener Meinung zu sein, wie auch uns“, wie der Satz des hl. Tomas lautet. Er bemerkt auch an anderer Stelle überaus klug: "Mir scheint es sicherer zu sein, daß das, was die Philosophen gut geheißen haben und unserem Glauben nicht widerspricht, weder so zu behaupten ist wie die Lehrsätze des Glaubens, auch wenn sie manchmal unter dem Namen der Philosophen eingeführt werden, noch so abzulehnen ist als dem Glauben entgegengesetzt, damit den Weisen dieser Welt keine Gelegenheit geboten werde, die Lehre des Glaubens zu verachten“.
Obwohl der Ausleger zeigen muß, daß das, von dem die Naturwissenschaftler schon mit sicheren Beweisen bestätigt haben, daß es sicher ist, den richtig ausgelegten Schriften keineswegs entgegensteht, soll ihm freilich dennoch nicht entgehen, daß es bisweilen geschehen ist, daß manches, was von jenen als sicher gelehrt wurde, später in Zweifel gezogen und verworfen wurde. …
Sodann wird es nützlich sein, ebendies auf verwandte Wissenschaften, vor allem auf die Geschichte, zu übertragen.
Inspiration und Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift
Es kann zwar vorkommen, daß den Kopisten beim Abschreiben der Handschriften manches fälschlicherweise entgangen ist; dies ist nach reiflicher Überlegung zu beurteilen und nicht ohne weiteres zuzugestehen, es sei denn bei Stellen, für die es in gehöriger Weise nachgewiesen wurde; es kann auch vorkommen, daß die echte Aussage einer Stelle zweideutig bleibt; die besten Regeln der Auslegung tragen viel dazu bei, sie aufzulösen: aber es wird völlig unstatthaft sein, entweder die Inspiration auf lediglich einige Teile der heiligen Schrift einzuschränken oder einzuräumen, der heilige Verfasser selbst habe geirrt.
Nicht zu dulden ist nämlich auch das Vorgehen derer, die sich dieser Schwierigkeiten entledigen, indem sie nämlich ohne Zögern zugeben, daß sich die göttliche Inspiration auf Dinge des Glaubens und der Sitten, nichts außerdem, erstrecke; denn sie meinen fälschlicherweise, wenn es sich um die Wahrheit der Aussagen handelt, sei nicht so sehr danach zu fragen, was Gott eigentlich gesagt habe, als vielmehr zu erwägen, aus welchem Grund er es gesagt habe.
Denn uneingeschränkt alle Bücher, die die Kirche als heilig und kanonisch anerkennt, wurden in all ihren Teilen auf Diktat des Heiligen Geistes verfaßt; weit gefehlt, daß der göttlichen Inspiration irgendein Irrtum unterlaufen könnte, schließt sie durch sich selbst nicht nur jeden Irrtum aus, sondern schließt ihn aus und verwirft ihn so notwendig, wie es notwendig ist, daß Gott, die höchste Wahrheit, Urheber überhaupt keines Irrtums ist.
Dies ist der alte und beständige Glaube der Kirche, wie er auch in feierlicher Erklärung auf den Konzilien von Florenz[1] und Trient[2] definiert und schließlich auf dem Vatikanischen Konzil bestätigt und deutlicher erklärt worden ist, von dem ohne Einschränkung verkündet wurde: "Die Bücher des Alten und Neuen Testamentes … haben Gott zum Urheber“ [*3006]. Daher hat es überhaupt keine Bedeutung, daß der Heilige Geist als Werkzeuge zum Schreiben Menschen herangezogen hat, so als ob zwar nicht dem ursprünglichen Verfasser, wohl aber den inspirierten Schreibern etwas Falsches habe entschlüpfen können. Denn er selbst hat sie mit übernatürlicher Kraft so zum Schreiben angeregt und bewegt, ist ihnen so beim Schreiben beigestanden, daß sie all das, und zwar nur das, was er selbst gebot, sowohl im Geiste recht erfaßten als auch gläubig niederschreiben wollten und mit unfehlbarer Wahrheit angemessen ausdrückten: andernfalls wäre nicht er selbst der Urheber der gesamten heiligen Schrift. …
Und so sehr war es für alle Väter und Lehrer eine Grundüberzeugung, daß die göttliche Schrift, die von den heiligen Schriftstellern herausgegeben wurde, von überhaupt jedem Irrtum frei sei, daß die deswegen jene nicht wenigen Stellen, die etwas Entgegengesetztes oder Unpassendes anzuführen schienen …, nicht weniger scharfsinnig als gewissenhaft miteinander in Einklang zu bringen und zu versöhnen suchten; sie verkündeten einmütig, daß diese Bücher sowohl insgesamt als auch in ihren Teilen in gleicher Weise aus göttlichem Anhauch seien, und daß Gott selbst, der durch die heiligen Verfasser gesprochen, überhaupt nichts der Wahrheit Fremdes habe äußern können. Das, was derselbe Augustinus an Hieronymus geschrieben hat, soll allgemein gelten:
- "Wenn ich in diesen Schriften auf etwas stoße, was der Wahrheit entgegengesetzt zu sein scheint, so werde ich nicht daran zweifeln, daß entweder die Handschrift fehlerhaft ist, oder der Übersetzer nicht getroffen hat, was gesagt wurde, oder ich es überhaupt nicht verstanden habe."
Sehr vieles nämlich wurde aus jeder Art von Lehren lang und vielfach gegen die Schrift geschleudert, was nun als unbegründet völlig in Vergessenheit geraten ist; ebenso wurde einst bei der Auslegung nicht weniges in bezug auf bestimmte Stellen der Schrift (die nicht eigentlich zur Richtschnur des Glaubens und der Sitten gehören) vorgebracht, bei denen eine sorgfältigere Forschung später richtiger sah. Denn die Erdichtungen der Meinungen zerstört der Tag, aber "die Wahrheit bleibt und erstarkt auf ewig“.
Verweise
Apostolicae curae | Diuturnum illud | Graves de communi re | Humanum genus | Immortale Dei | Libertas praestantissimum | Militantis ecclesiae | Providentissimus Deus | Quod Apostolici muneris | Rerum novarum | Satis cognitum | Tametsi futura