Stellenjägerparteien
- von Max Weber
- Aus dem Vortrag "Politik als Beruf“
Stellenjägerparteien. Der kalte Blick eines Kindes des Kaiserreiches auf die parlamentarische Demokratie.
Der von der Politik lebende Berufspolitiker kann sein: reiner "Pfründner“ oder besoldeter "Beamter“. Entweder bezieht er dann Einnahmen aus Gebühren für bestimmte Leistungen - Trinkgelder und Bestechungssummen sind nur eine regellose und formell illegale Abart dieser Kategorie von Einkünften -, oder er bezieht ein festes Naturaliendeputat oder Geldgehalt, oder beides nebeneinander. In der Vergangenheit waren Lehen, Bodenschenkungen, Pfründen aller Art der typische Entgelt von Fürsten, siegreichen Eroberern; heute sind es Ämter aller Art in Parteien, Zeitungen, Genossenschaften, Gemeinden und Staaten, welche von den Parteiführern für treue Dienste vergeben werden.
Alle Parteikämpfe sind nicht nur Kämpfe um sachliche Ziele, sondern vor allem auch: um Ämterpatronage. Manche Parteien, so namentlich die in Amerika, sind seit dem Schwinden der alten Gegensätze über die Auslegung der Verfassung reine Stellenjägerparteien, welche ihr sachliches Programm je nach den Chancen des Stimmenfanges abändern. …
Diese Maschinerie bedarf eines erheblichen Personenapparates. Es sind immerhin wohl 2.000 Personen in England, die direkt von der Politik der Parteien leben. Sehr viel zahlreicher sind freilich diejenigen, die rein als Stellenjäger oder als Interessenten in der Politik mitwirken, namentlich innerhalb der Gemeindepolitik. Als Höchstes winkte, insbesondere für große Geldmäzenaten - die Finanzen der Parteien beruhen zu vielleicht 50% auf Spenden ungenannt bleibender Geber - die Peers-Würde.
Was war nun der Effekt des ganzen Systems? Daß heute die englischen Parlamentarier mit Ausnahme der paar Mitglieder des Kabinetts (und einiger Eigenbrötler) normalerweise nichts anderes als gut diszipliniertes Stimmvieh sind. Das Parlamentsmitglied hat nur zu stimmen und nicht Parteiverrat zu begehen; es hat zu erscheinen, wenn die Einpeitscher rufen, zu tun, was je nachdem das Kabinett oder was der leader der Opposition verfügt. Ober dem Parlament steht also damit der faktisch plebiszitäre Diktator, der die Massen vermittels der (Partei-) Maschine hinter sich bringt, und für den die Parlamentarier nur politische Pfründner sind, die in seiner Gefolgschaft stehen. …
Was bedeutet das amerikanische spoil system - die Zuwendung aller Bundesämter an die Gefolgschaft des siegreichen Kandidaten - für die Parteibildung heute? Daß ganz gesinnungslose Parteien einander gegenüber stehen, reine Stellenjägerorganisationen, die für den einzelnen Wahlkampf ihre wechselnden Programme je nach der Chance des Stimmenfanges machen - in einem Maße wechselnd, wie dies trotz aller Analogien doch anderwo sich nicht findet. Die Parteien sind eben ganz und gar zugeschnitten auf den für die Amtspatronage wichtigsten Wahlkampf: den um die Präsidentschaft der Union und um die Governorstellen der Einzelstaaten. Von amerikanischen Arbeitern bekam man noch vor fünfzehn Jahren auf die Frage, warum sie sich so von Politikern regieren ließen, die sie selbst zu verachten erklärten, die Antwort: "Wir haben lieber Leute als Beamte, auf die wir spucken, als wie bei euch eine Beamtenkaste, die auf uns spuckt.“