Vögelin, Erich
- Erich Hermann Wilhelm Vögelin; Eric Voegelin
- * 3. Januar 1901 in Köln
- † 19. Januar 1985 in Palo Alto, Kalifornien
Erich Vögelin war ein deutscher Politologe und Philosoph.
Inhaltsverzeichnis
Leben
Vögelin wuchs in Wien auf und studierte, nach Studienaufenthalten in den USA und Frankreich, an der Wiener Universität bei Othmar Spann. Dort promovierte er und lehrte seit 1928 Gesellschaftslehre und allgemeine Staatstheorie. Nach dem Anschluß Österreichs emigrierte Vögelin über die Schweiz in die USA und wurde 1944 amerikanischer Staatsbürger.
Lehrtätigkeit
Eric Voegelin trat 1942 dem Department of Government an der Louisiana State University in Baton Rouge beitrat. 1958 wurde er auf den Lehrstuhl Max Webers an die Ludwig-Maximilians-Universität München berufen, der seit Webers Tod 1920 unbesetzt war, und begründete das Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft.
Nach seiner Emeritierung kehrte Voegelin 1969 in die USA zurück und arbeitete von 1969 bis 1974 als Henry Salvatori Distinguished Scholar und von 1974 bis zu seinem Tod 1985 als Senior Research Fellow an der Hoover Institution on War, Revolution and Peace der Stanford Universität. Sein ehemaliger Lehrstuhl in München wurde 1982 in die internationale Eric-Voegelin-Gastprofessur der Sozialwissenschaftlichen Fakultät umgewandelt.
Lehre
Voegelins Schriften sind größtenteils stark geisteswissenschaftlich und historisch geprägt; er selbst verstand sich allerdings stets als Politikwissenschaftler und genießt bis heute seine größte Rezeption in diesem Fach. Seine Werke könnten allerdings ebenso fruchtbare Ansätze bieten für Theologen, Psychologen und Philosophen, Althistoriker und -philologen sowie Vertreter vergleichbarer Fächer.
Sein Begriff von Politischer Wissenschaft ist holistisch. Er versteht darunter die Wissenschaft von der Ordnung des menschlichen Lebens und ihrer Interpretation durch die in ihr lebenden Menschen. Menschliche Ordnungen im Sinn Voegelins finden sich bereits im alten Ägypten und den anderen orientalischen Reichen. In Ordnung und Geschichte zeichnet er diese Entwicklung bis in die Neuzeit nach. In Anlehnung an Platon bezeichnet er konkrete menschliche Ordnungen als Ausdruck verbreiteter Ordnungsvorstellungen der jeweiligen Zeit. Diese Vorstellungen liegen im Bewusstsein der einzelnen Menschen, weshalb Politikwissenschaft für Voegelin Bewusstseinsphilosophie sein muß. Den Ausdruck von Ordnungsvorstellungen in konkreten politischen Ordnungen nennt Voegelin „Repräsentation“.
Voegelin unterscheidet prinzipiell drei verschiedene Typen von Ordnungsvorstellungen (er nennt sie Wahrheitstypen): die kosmologische Wahrheit der orientalischen Reiche, die anthropologische Wahrheit der griechischen Klassik und die soteriologische Wahrheit des Christentums. In der Kombination der beiden letztgenannten erkennt er seine Vorstellung von idealer Ordnung. An der griechischen Klassik lehnt sich sein Menschenbild an. Er begreift den Menschen als verschiedenen Stufen des Seins zugehörig, vom rein Vegetativ-Sinnlichen bis zur Transzendenz. Diese Dimensionen müssen sich nach Voegelin in politischen Ordnungen wiederfinden, sollen sie dem Menschen angemessen sein. Dies ist bei Platon und Aristoteles gegeben, aber noch unvollständig:
- „Die Erfahrungen, die von den mystischen Philosophen in einer Theorie vom Menschen ausgelegt wurden, betonen alle die menschliche Seite der Orientierung der Seele zur Gottheit. Die Seele wendet sich einem Gott zu, der in seiner unbeweglichen Transzendenz verharrt; sie bewegt sich auf die göttliche Realität zu, trifft aber auf keine antwortende Bewegung aus dem Jenseits.“[1]
Hier setzt nach Voegelin das Christentum an:
- „Die Erfahrung einer wechselseitigen Beziehung mit Gott, […] der Gnade, die der Natur des Menschen eine übernatürliche Form auflegt, ist der spezifische Unterschied der christlichen Wahrheit gegenüber der anthropologischen. Die Offenbarung dieser Gnade in der Geschichte durch die Inkarnation des Logos in Christus erfüllte erkennbar die auf den Advent gerichtete Bewegung des Geistes bei den mystischen Philosophen.“[2]
Zur Gnosis
Erich Vögelin sah in der Moderne eine Wiederkehr der Gnosis, insbesondere in Form politischer Religion. Nach Voegelin gibt es sechs Merkmale, welche den Gnostiker auszeichnen:
- Unzufriedenheit mit seiner Lage in der Welt.
- Glaube, die Welt sei schlecht beschaffen, nicht jedoch der Mensch.
- Glaube, vom Übel der Welt erlöst werden zu können.
- Seinsordnung kann in einem historischen Prozeß verändert werden.
- durch eigene Tat des Menschen kann eine erlösende Tat erfolgen.
- Er ist im Besitz des Wissens um die Methode dieser Änderung, erstellt von diesem Standpunkt aus Rezepte zur Selbst- und Welterlösung und verkündet prophetisch der Menschheit sein Erlösungswissen.
Politische Religionen
Weil die totalitären Bewegungen, die für ihn tief in der Moderne wurzeln, die Religion verdrängt haben, haben sie nach seinem Verständnis selbst religiösen Charakter angenommen. In seinem Werk „Die politischen Religionen“ (1938) erklärte Voegelin das Funktionieren des Nationalsozialismus und anderer totalitärer Systeme mit dem Begriff der „politischen Religion“, der suggeriert, daß es Parallelen in den Strukturen von den oben genannten Regierungssystemen und denen von Religionen gibt, und zwar in ihren Funktionsweisen und in der Art der Mobilisierung von Massen. Voegelin stützt seine These dabei auf folgende Grundideen:
- Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus als Produkte von Säkularisierungsvorgängen
- Das Versprechen von Heil und Erlösung
- Der Führer als Messias
- Das utopische Element
- Die Rolle von Ritualen und Festen
- Totalitäre Bewegungen als esoterische Bewegungen
- Der Totalitarismus als 'Überwinder' der Säkularisierung
Voegelin selbst war sich jedoch bewusst, daß eine solche Deutung einer weit gefassten Definition von Religion als Grundlage bedarf:
- „Um die politischen Religionen angemessen zu erfassen, müssen wir daher den Begriff des Religiösen so erweitern, daß nicht nur die Erlösungsreligionen, sondern auch jene anderen Erscheinungen darunter fallen, die wir nicht in der Staatsentwicklung als religiöse zu erkennen glauben; und wir müssen den Begriff des Staates daraufhin prüfen, ob er wirklich nichts anderes betrifft als weltlich-menschliche Organisationsverhältnisse ohne Beziehung zum Bereich des Religiösen.“
Das tut der Staat nach Voegelin eben gerade nicht. Die „Beziehung zum Bereich des Religiösen“ muß wiederhergestellt werden, um eine erneute Fehlentwicklung mit desaströsen Folgen zu vermeiden.
Ordnung und Geschichte
Das Opus Magnum von Voegelin ist Order and History, das auch in deutscher Sprache unter dem Titel Ordnung und Geschichte in 10 Bänden erschien.
Die Konkretisierung dieses Idealbildes von Ordnung sieht Voegelin im Römischen Reich und danach in seinem mittelalterlichen Nachfolger. Seit dem hohen Mittelalter sieht er, beginnend in religiösen Untergrundbewegungen, Kräfte am Werk, die diese Ordnung zerstören, indem der transzendente Bezug politischer Ordnungsvorstellungen beseitigt wird.
Schriften
- Über die Form des amerikanischen Geistes, Tübingen 1928
- Rasse und Staat, Tübingen 1933
- Die Rassenidee in der Geistesgeschichte von Ray bis Carus, Berlin 1933
- Der autoritäre Staat, Wien 1936
- Die politischen Religionen. Bermann Fischer, Stockholm 1939[1]. Neuauflage München 1996
- The New Science of Politics. An Introduction, Chicago University Press, Chicago 1952
- Order and History, 5 Bde. Baton Rouge 1956–1987
- Wissenschaft, Politik und Gnosis, München 1959, englische Übers.: Science, Politics and Gnosticism, Regnery Publishing Inc., Washington DC, 1968
- Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik, München 1966
- From Enlightment to Revolution, Durham 1975
- Autobiographische Reflexionen, Hg. Peter J. Opitz. München 1994
- Das Volk Gottes. Sektenbewegungen und der Geist der Moderne, München 1994
- Der Gottesmord. Zur Genese und Gestalt der modernen politischen Gnosis, München 1999
- Ordnung und Geschichte, 10 Bde. Hg.Dietmar Herz & Peter Opitz, München 2001–2005
- Die Neue Wissenschaft der Politik, München 2004
- Anamnesis. Zur Theorie von Geschichte und Politik, Freiburg 2005
- Das Drama des Menschseins, Passagen, Wien 2007
- Das Jüngste Gericht Friedrich Nietzsches. Matthes & Seitz, Berlin 2007
- Conversations with Eric Voegelin, Mitschrift von vier Vorlesungen in Montreal in den Jahren 1965, 1967, 1970, 1976. Tomas More Institute, Montreal 1980
- Briefwechsel 1939–1949: Eric Voegelin und Hermann Broch, In: Sinn und Form, Heft 2/2008, S. 149–174
- Briefwechsel, Eric Voegelin und Karl Löwith, In: Sinn und Form, Heft 6/2007, S. 764–794
- Realitätsfinsternis. Übers. Dora Fischer-Barnicol, Hg. und Nachwort Peter J.Opitz. Matthes & Seitz, Berlin 2010
- Was ist Geschichte? Übers. Dora Fischer-Barnicol, Hg. und Vorwort Peter J.Opitz. Matthes & Seitz, Berlin 2015
- Glaube und Wissen. Der Briefwechsel zwischen Eric Voegelin und Leo Strauss von 1934 bis 1964. Hg. Peter J. Opitz; Wilhelm Fink, München 2010
- Luther und Kalvin. Die große Verwirrung. Hg. Peter J. Opitz. Wilhelm Fink, München 2011, ISBN 978-3-7705-5159-0
- Die Natur des Rechts. Übers. und Nachwort Tomas Nawrath. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2012
Verweise